Wichtiger Hinweis: Sowohl das Layout als auch die Inhalte wurden so übernommen, wie sie einst von Olaf Boos veröffentlicht wurden.
Der Originalverfasser des gesamten nachfolgenden Textes nach dem Balken war Olaf Boos im Jahre 1996 und 2001, s. u.
Aufgrund der Sperraktion von xs4all.nl gab es wieder
heftige Diskussionen in den Newsgruppen. Hierbei wurde über die Vorgabe
der Bundesanwaltschaft zur Sperrung des niederländisachen Servers
gemeckert, dabei ist - wenn man kurz darüber nachdenkt - von Seiten
der Bundesanwaltschaft doch eigentlich nur das "Angebot" der ICTF,
die vorgab, mißliebige Inhalte im Netz filtern zu können, in Anspruch
genommen worden. Dies hatte mich dazu veranlaßt, ein Schreiben an die
Bundesanwaltschaft zu verfassen, in welchem die Unsinnigkeit der Aktion
sachlich dargelegt und erklärt werden sollte. Mit Unterstützung
der Teilnehmer auf der Mailingliste debate@fitug.de kam das untenstehende
Schreiben mit Datum vom 18.09.1996 zustande.
Aus gegebenem Anlass in 2001 wurde der Text im Oktober 2001 wieder online gestellt.
Generalbundesanwalt
beim Bundesgerichtshof
Herrenstraße 45a
76133 Karlsruhe
Betr.: Derzeitige Sperrungen von Webseiten im Internet
Aktenzeichen:
2 BJs 93/96-4
2 ARP 82/96-7
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit einer gewissen Sorge verfolge ich die derzeitigen Versuche von
Ihrer Seite Webseiten mit in der Bundesrepublik unzulässigen und/oder
ggf. strafbaren Inhalten sperren zu lassen. Hierbei nehmen Sie die
Hilfe der ICTF (Internet Content Task Force), einer Initiative der
ECO (Vereinigung deutscher Provider) in Anspruch. Die beabsichtigte
Sperrung der im World Wide Web (WWW) zugänglichen Zeitschrift
"radikal", Ausgabe 154, begründen Sie damit, daß die Ausgabe einen
Artikel enthält, der die Sabotage von Bahnanlagen beschreibt.
Leider hat die versuchte Sperrung ein zu Ihrer eigentlichen Absicht
völlig konträres Resultat zur Folge. Darüber hinaus wurde durch
diese Aktion dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ein nicht
unerheblicher Schaden zugeführt (Deutschland wird nun in Sachen Zensur
endgültig in einem Atemzug mit China und Singapur genannt). Außerdem
verursachte diese Aktion einen nicht unerheblichen wirtschaftlichen Schaden
bei Unbeteiligten (xs4all.nl; Kunden von xs4all.nl, welche auf deutsche
Kontakte angewiesen sind, etc.).
Da ich nicht davon ausgehe, daß dieses Resultat in Ihrem Interesse lag,
möchte ich versuchen, Ihnen die gesamte Tragweite dieser Aktion sowie
die Begründung, weswegen die gewählte Vorgehensweise scheitern mußte,
zu erläutern. Mir als einfachem Netzteilnehmer ist stark daran gelegen
einer fatale Fehlentwicklung in der Bestrebung, kriminelle Elemente aus
dem Netz fernzuhalten, durch Beratung entgegenzuwirken.
Zur Sache:
Ein Kunde von xs4all.nl bietet in seinen Webseiten, die er auf dem Webserver
von xs4all.nl bereithält, die Zeitschrift "radikal" an. Darin hatten Sie
Inhalte gefunden, welche Sie zu Maßnahmen gegen die Bereitstellung der
Zeitschrift veranlassten. Vermutlich aufgrund der Pressemitteilung der
ICTF, in welcher eine Sperrung kritischer Inhalte zugesagt wurde, wandten
Sie sich an die ICTF, welche auch gleich aktiv wurde und durch RA Schneider
eine Mitteilung an alle der ICTF angeschlossenen Provider weitergab, in
der die Sperrung der Rechner www.xs4all.nl und www.serve.com dringend
empfohlen wurde. Die Folge war, daß nicht nur die beanstandeten Seiten,
sondern alle Seiten der betroffenen Rechner (bei xs4all.nl über 3580
Kunden) ebenfalls nicht mehr erreichbar waren.
Die Tatsache, daß xs4all.nl selbst nicht angesprochen wurde, dafür
aber über 3500 unbeteiligte Anbieter quasi in Sippenhaft genommen
wurden, hat im Netz (international) ein erhebliches negatives Echo
aufkommen lassen - und dabei handelt es sich bei weitem nicht nur
um die Klientel der Zeitschrift "radikal", sondern um das gesamte
Spektrum der Netzgesellschaft. Die direkten Folgen waren:
Zudem wurden allgemein technische Maßnahmen unternommen, welche die
Sperrung in jeder Hinsicht untauglich macht. Dadurch ist der Zugriff
auf den/die gesperrten Rechner auch über die sperrenden ISPs direkt
oder zumindest indirekt möglich. Dies ist eine übliche Reaktion der
Internet-Teilnehmer auf unangebrachte Eingriffe in die Funktionalität
des Netzes.
Die Frage ist nun, wie es zu dieser Entwicklung kommen kann. Um dies zu
verstehen, erläutere ich Ihnen den Vorgang "Internet" im Zusammenhang
mit dem Bereitstellen und Abruf irgendwelcher Inhalte in vereinfachter
Form. Eine ausführliche und anerkannte Literaturqülle ist
"Computer-Netzwerke" von Andrew S. Tanenbaum, in Deutsch erschienen im Wolframs
Fachverlag, ISBN 3-925328-79-3. Die von mir verwandte Beschreibung soll
eine für Laien verständliche, vereinfachte Darstellung sein.
Das Geschehen lässt sich in mehrere "Schichten" aufteilen, woraus sich
auch die Zuständigkeiten und Eingriffsmöglichkeiten ergeben. Jede
Schicht steht in Interaktion mit der entsprechenden Schicht der Gegenseite,
ist also immer von allen anderen Schichten auf beiden Seiten abhängig.
Die unterste Schicht ist die physikalische Übertragung. Standleitungen;
Wählleitungen; Satelliten- oder Funkverbindungen, welche als reine
Signalträger dienen. Die Übertragung findet entweder in einer
modulierten Tonfolge (analoge Wählverbindungen) oder in einer
digitalisierten Form nach einem bestimmten Protokoll (z.B. ISDN-Leitungen
mit u.U. mehreren Protokollschichten nach ITU-Empfehlungen) statt.
Zuständig sind hier die Betreiber der Leitungen (z.B. Deutsche
Telekom AG).
Die nächste Schicht ist das Transportschicht, mit welchem von Rechner
zu Rechner eine logische Verbindung aufgebaut wird. Das im Internet
verwendete Protokoll nennt sich TCP/IP und funktioniert nach dem
Prinzip, daß die zu übertragenden Daten in Pakete zerlegt werden
und zwischen den verschiedenen Rechnern, welche über eine eindeutige
4-segmentierte "Adresse" (IP-Nummer, z.B. 193.197.88.3) definiert sind,
eine Transportroute festgelegt und jedes Paket, mit Absender- und
Zieladresse versehen, übertragen wird. Hierbei kann auf dem Transport
die Route abweichen und dadurch evtl. Übertragungsengpässe/-probleme
umgehen. Wichtig ist, daß den Nutzdaten im Paket der inhaltliche Zweck
nicht angesehen werden kann (was korrekt ist, da der Inhalt für diese
Schicht unerheblich ist). Die Zuständigkeit für diese Schicht obliegt
den Providern (ISPs), welche über das Transportprotokoll Verbindungen
von Rechner zu Rechner (unter Zuhilfenahme weiterer Rechner von anderen
Providern) herstellen. Eine Zusammensetzung der Datenpakete erfolgt
erst wieder beim Zielrechner.
Die darauffolgende Schicht ist die Applikationsschicht. Hier sind es die
entsprechenden Anwendungsprogramme auf den Rechnern des Abrufers (z.B.
der Browser) und der Gegenstelle (z.B. Webserver), die über ein
entsprechendes Protokoll kommunizieren. Dies kann z.B. FTP
(Programmdateiübertragung) oder HTTP (wird zur Übertragung von Webseiten
verwendet) sein. Hierbei werden Absende- und Zieladressen in Form
alphanumerischer Kennungen für User-, System- und Dateinamen verwendet,
der Weg dorthin ist irrelevant. Ein Beispiel für eine Dateiadresse ist:
http://www.bla.fasel/texte/dokument.html
http:// steht für das verwendete Protokoll, www.bla.fasel ist der
Systemname (welches einer IP-Nummer für den TCP-Transport zugeordnet ist).
/texte ist ein Dateiverzeichnis auf dem Rechner (/~texte wäre das
gleiche, diesmal mit einer relativen Zuordnung im Dateisystem des
Systems) und dokument.html ist schließlich die eigentliche Datei.
Die Zuständigkeit liegt hier beim Endanwender und dem Betreiber des
Webservers. Der Betreiber des Webservers ist allerdings nur für die
Bereitstellung der Dateien und der zugehörigen Dateistruktur verantwortlich.
Der ISP, der dem Endanwender den Zugang zum Netz ermöglicht, kann hier
lediglich eine Sperrung eines Applikationsprotokolls (über eine
"Portnummer"; hierbei ist üblicherweise Port 80 für das Protokoll
HTTP zuständig) in Kombination mit einer Zielrechneradresse
(IP-Nummer) vornehmen. Ein Einfluß auf einzelne Dateien des Zielrechners
ist ihm nicht möglich.
Die oberste Schicht ist schliesslich die Anwenderschicht. Hier
kommunizieren der Endanwender und z.B. der Anbieter von Webseiten
miteinander. Im einfachsten Fall stellt die Anbieterseite nur eine
Datei zum Abruf bereit, aber oft genug werden Eingaben des Endanwenders
angenommen und weiterverarbeitet (z.B. CGI-Scripts; Paßwordabfragen,
etc.). Hier liegen die Zuständigkeiten beim Autor des angebotenen
Materials (redaktionelle Verantwortung der Webseite; Datei zum
Download, etc.) und beim Endanwender. Weder der ISP noch der
Betreiber des Webservers kann hier in die Pflicht genommen werden.
Der ISP sieht von den Inhalten nichts, er transportiert lediglich
die Datenpäckchen. Der Webserver kann keine redaktionelle Verantwortung
tragen, da Webseiten nicht zwingend statische Inhalte haben. Statt
dessen können die Inhalte von Seiten durch Eingaben des Endanwenders
unterschiedlich ausfallen. Die Unterschiede bewegen sich in den Grenzen,
die der Autor festlegt.
Betrachten wir das nun in Übertragung auf die Angelegenheit "radikal":
Möglicherweise wird von der ICTF die Möglichkeit angesprochen, daß der
Zielrechner, auf welchem die beanstandete Seite liegt, welche aber im
dortigen Rechtsraum kein Grund zur Beanstandung darstellt, beim ISP auf
einem "Proxy-Rechner" dargestellt wird, in welchem die beanstandete Seite
fehlt. Hierbei ist aber zweierlei zu bedenken:
Damit sollte deutlich geworden sein, daß dies keinen zumutbaren
Aufwand für den Endanwender darstellt.
Die korrekte Verfahrensweise ergibt sich aus der Schichtenstruktur und
den damit verknüpften Zuständigkeiten. Der ISP des Endanwenders kann
keine Verantwortung für die übertragenen Daten übernehmen (gilt für
beide Richtungen), lediglich der Bereitsteller der Daten kann als
Ansprechpartner dienen, wenn der Autor der Daten, der letztlich als
Einziger redaktionell verantwortlich gemacht werden kann, sich verweigert.
Eine komplette Rechnersperre (alle Dienste oder auf einen Dienst
beschränkt) ist in jedem Fall unverhältnismäßig, betrifft viel
zuviele Unbeteiligte und wird im Netz als "Sippenhaft" auf das
Schärfste verurteilt.
Auf den ersten Blick wäre es denkbar, daß der Betreiber eines Webservers
verpflichtet werden könnte, deutsche Zugriffe auf die in Deutschland
nicht zulässigen Inhalte seines Servers zu unterbinden. Dies scheitert
jedoch daran, daß die Herkunftsadresse nicht geographisch definiert werden
kann. Eine alphanumerische Adresse, die auf ".de" endet, hat keine
Bedeutung: Zum einen können deutsche Endanwender Adressen verwenden,
die nicht auf ".de" enden, zum anderen können auch ausländische
Zwischensysteme legitim in Anspruch genommen werden können, so daß die
deutsche Herkunft nicht mehr zu erkennen ist.
Die ICTF, die sich bereitwillig als Exekutive des Netzes angeboten hatte,
ist hier völlig fehl am Platz (dies wurde im Netz übrigens schon seit
der Gründung der ICTF bemängelt - nicht aus "Furcht vor Reglementierung"
sondern schon aus rein technischen Aspekten). Der beliebte und in den
herkömmlichen Medien immer wieder gern verwendete Begriff der Rechtsfreiheit
des Netzes ist ebenso widersinnig, da es gewisse "Selbstreinigungskräfte"
im Netz gibt. Auch im Netz ist Kinderpornographie nicht gern gesehen,
ungeachtet der Nationalität. Auch sonstige, allgemein als kriminell
empfundene Tätigkeiten stoßen auf wenig Gegenliebe, so daß
man die Netzgemeinde durchaus als Partner gewinnen kann. Hierzu gehört
allerdings, daß von Seiten der Justizbehörden das technische Umfeld
(Schichten und dazugehörigen Zuständigkeiten) sowie die Internationalität
des Netzes berücksichtigt wird.
Das Netz stellt im Prinzip schon den internationalen Zusammenschluß dar,
der in der "Realen Welt" erst angestrebt wird (Staatenverbünde wie EU,
etc.). Dies ist unbedingt bei einer juristischen Betrachtung zu
berücksichtigen. Wird dies nicht beachtet, so kann, wie im vorliegenden
Fall die Sperrung der "radikal", durch spontane Solidarisierung des
Netzes aufgrund des Eingriffs (unabhängig vom Anlaß!) ad absurdum
geführt werden.
Der neuerliche Fall, Kinderpornographie auf einem brasilianischen Server,
welcher von einer nordrhein-westfälischen Justizbehörde der ICTF angezeigt
wurde, ist ebenfalls bedenklich. Hier stellt RA Schneider als Vertreter
der ICTF im Namen der deutschen Justiz dem Betreiber eines brasilianischen
Webservers ein Ultimatum. Diese Vorgehensweise ist nach meinem Empfinden
mindestens als äußerst kritikwürdig zu bezeichnen. Die ICTF ist keine
im Netz akzeptierte und/oder legitimierte Exekutive und kann nach den
bisherigen Vorkommnissen auch nicht (mehr) als eine Solche angesehen
werden. Korrekt wäre hier das Ansprechen des brasilianischen Betreibers
durch die ermittelnde Behörde, ggf. in Amtshilfe mit den dortigen
Behörden. Das Ultimatum der ICTF ist allenfalls eine "Geschäftsbeziehung"
zwischen dem brasilianischen Webserver und der durch die ICTF vertretenen
Provider und der allgemeinen Bekämpfung der Kinderpornographie nach
Netzansicht in keinster Weise zuträglich.
Unabhängig von der ICTF gibt es Bestrebungen im Netz, die rechtliche
Situation im Netz unter Berücksichtigung der technischen und
geographischen Begebenheiten zu definieren, um so den Gesetzgebern
und den Justizbehörden geeignete Vorlagen zur Verabschiedung
geeigneter Rechts- und Gesetzbestimmungen zu ermöglichen. Als
Ansprechpartner möchte ich ihnen hierfür z.B. die FITUG e.V.
nennen (eMail: info@fitug.de).
Zu meiner Person: Ich bin ein einfacher, aber aktiver Netzteilnehmer
ohne juristische Titel und Vorbildung, dafür stark an einer geordneten
Entwicklung des Netzes interessiert. Durch die derzeitige Entwicklung
hin zur leichtfertigen Zensur alarmiert sehe ich mich veranlaßt, mich
mit diesem Schreiben an Sie zu wenden. Die Diskussion dieses Themas
findet sowohl innerhalb der FITUG, als auch in der öffentlichen
Newsgruppe de.soc.zensur statt. Sie sind herzlichst eingeladen,
an den dort laufenden Diskussionen teilzunehmen. Nicht nur ich
verspreche mir davon eine weitaus bessere Zusammenarbeit zum Wohle
eines Netzes mit der möglichen Freiheit und der gebotenen Regelung,
um den Start in die neü Zukunft zu ermöglichen.
Ich hoffe Ihnen in der Angelegenheit dienlich gewesen zu sein und
verbleibe in Erwartung einer Antwort
mit freundlichen Grüßen,
(Olaf Boos)
Mitunterzeichner:
Dieser Text ist im World Wide Web abrufbar unter der URL
http://www.tarigon.de/tpages/karlsruhe.html
(vormals http://www.rhein-neckar.de/~tarigon/zensur/karlsruhe.html)
Soweit das Schreiben. Abgeschickt wurde es am
18.09.1996, eine Reaktion traf bereits am 26.09.1996 ein, recht flott
also. Eine wortlaute Wiedergabe erfolgt an dieser Stelle nicht, da mir
dazu keine explizite Erlaubnis vorliegt.
Sinngemäß wird mir nach einem Dank
für das Schreiben mitgeteilt, daß dem GBA der Aufbau und
Funktion des Internets wohl bekannt sei, die Inhalte meines Schreibens
aber bei künftigen Fällen berücksichtigt werden würden.
Im Falle "radikal" handele es sich um ein laufendes Verfahren, so daß
dahingehend zu diesem Zeitpunkt keine weitere Auskunft möglich sei.
Nun, mir ging es auch weniger um den Fall "radikal",
sondern allgemein um die strittige Vorgehensweise der ICTF. Ob mein Schreiben
nun tatsächlich zu einer kompetenteren Behandlung vergleichbarer
Fälle beitragen wird, oder doch nur ein Selbstgespräch mit einer
Wand war, wird die Zeit zeigen.
Weitere Reaktionen erfolgten nicht mehr.
© 1996, 2001 O.Boos, erwähnte URL in 2001 angepasst.